T e i l '1' zur Debattenlage:

DJEMAA EL FNAA -
Kommunikations- und Gesellschaftsmodell für die Zukunft oder Touristenteppich?

Salam Bakkali,
wollen wir doch noch ein wenig beim Djemaa el Fnaa verweilen - würde ich vorschlagen!
So können wir vielleicht etwas besser kreative und grundlegende Aspekte und Tendenzen für eine Weiterentwicklung in Marokko analysieren.
Allerdings muss ich einräumen, dass ich dazu die Perspektive des Stadt- und Regionalplaners verwende.
Die o.g. Untergliederung der Debatte halte ich für mich deshalb für nützlich, da ich mich auch schon der Materialsuche widme, um mich in El Berrs Konzept für einen 'Sammelband Marokko' einbringen zu können. Allerdings muss ich hier kritisch anmerken, dass El Berr mir leider noch keine inhaltliche Gliederung bzw. die Zielrichtung der von ihm beabsichtigten Publikation mitgeteilt hat. Aber das ist sicher auch unserer beruflichen Überarbeitung allgemein und den schleppenden Anmeldungen potentieller Autoren für sein Buch geschuldet.

Wie steht's um Dein Engagement für dieses phantastische Vorhaben?

Nun zu o.g. Teil 1 der Debattenlage.
El Berr hat uns ein wenig zur Geschichte des Platzes erzählt, und - da bin ich mit Dir einer Meinung - mit der Brille des wohlfeilen und historisch 'gesättigten Touristen' gesehen, d. h; er ist aus der Rolle des 'eigentlich Einheimischen' in die Rolle des in Marrakesch eher nur noch temporär beheimateten 'Flaneurs' geschlüpft - wie ich meine.
El Berrs Kritik an den Veränderungen, die der Platz erfahren hat, ist ebenfalls eher mager: Er sieht die kulturellen Erscheinungen des Platzes - vom öffentlichen Raum des Platzes weg - mechanisch in die umgebende bauliche Situation verlagert; alles geschuldet dem stärker werdenden touristischen Druck!!!

Aber auch Du übergehst m.M.n. die Thematik, dass Djemaa el Fnaa ein kulturelles Ereignis ist, viel zu schnell mit den eher beiläufig gestellten Fragen: Wem nützt es? Wer profitiert davon? Werden wir damit Fundamentalisten bekämpfen? ...
tragen doch alle diese Deine Fragen bereits einen eher aggressiv-konzeptuellen Charakter in sich, ohne allerdings eine tiefschürfende Analyse des Bestandes an den vorhandenen und historisch gewachsenen Qualitäten zu Grunde zu legen. (Beiseite gesprochen: Der Vorschlag für ein karitatives Projekt allein 'bringt's sicher auch noch nicht', aber er ist eine erste nützliche Idee - ein 'Bemutterungsprojekt', oder eine 'Erste-Hilfe-Idee' - im besten Sinne, eher eine Kur am Symptom denn an der Wurzel).

Nach meiner Meinung - und das ist meine erste These - ist DJEMAA EL FNAA immer noch ein beispielloses strukturiertes 'Energiefeld' (und kein Konglomerat!!!) ausgeprägt KOMMUNIKATIVER und vor allem DIREKTER - ÖFFENTLICH SICH VOLLZIEHENDER - BEZIEHUNGEN ZWISCHEN MENSCHEN.
Und damit ist er für mich länder- und nationenübergreifend ein zivilgesellschaftliches und höchst politisch-kulturelles KOMMUNIKATIONSMODELL FÜR DIE ZUKUNFT.

Das für mich Sensationelle am Platz war immer die Direktheit und nur durch die Öffentlichkeit kontrollierte jeweils eingegangene Beziehung: sei es der Kauf eines nicht preisgebundenen Schuhs direkt vom 'Produzenten'; sei es das stundenlange 'lernende' Feilschen um das dargebotene feinziselierte Silberarmband; sei es der Dialog mit dem phantastischen kindlichen oder 'verrückt'-paranoiden Märchenerzähler; sei es das unsägliche Wimmern des lepra-zerstörten bettelnden Voll-Amputierten beim Empfang der gespendeten Münzen; sei es der Schreck, wenn Dir urplötzlich die Schlange von ihrem Bändiger um den Hals gelegt wurde; sei es das ungläubige Erstaunen bei den wispernd vorgetragenen Angeboten einer Hure; sei es die offene Feuerstelle mitten auf dem Platz; sei es der 'Kaugummikaner'(ich zitiere El Berr), der dickwanstig und voller Ekel vor dem 'einfachen Volk' mit seiner Videokamera flüchtete; sei es der Zahnarzt mit seiner Zange - 'Zahnklempner' im schlimmsten Sinne: der Beispiele sind unendlich viele ...

Man stelle sich vor, die DIREKTHEIT der Beziehungen würde als erstes vom Platz verschwinden! Die Spontaneität und die Offenheit des Lebens und des Handels (als kultureller Akt! und nicht blosse pekuniäre Beziehung) wäre verloren:
der von Dir in Deinem ersten Beitrag spontan apostrophierte Ausweg: IT- Technologien, Diplommathematiker, Diplomphysiker, die 'globale Welt' muss her!!! das ist für mich wohl sehr notwendig, aber sekundär!

Man schaue sich die sogenannten europäischen und amerikanischen 'modernen Einkaufszentren und -strassen' an. Alle Funktionen sind von Strasse und Platz (also vom ursächlich öffentlichen Raum) in die Gebäude verlagert. Die Funktionen sind nur noch additiv-nacheinander und nicht strukturell-kommunikativ erlebbar: auf 'Leiser's' Schuhgeschäft folgt 'Stillers'Schuhgeschäft, dann 'Deutsche Bank', 'Sparkasse', Apotheke, dann 'Dresdner Bank', Obst + Gemüse; der Beispiele sind viele!!! Am Times Square z. B. (vgl. meinen Beitrag an anderer Stelle) werden die Menschen in "street people" und "lift people" unterteilt, beide Kategorien ausgeliefert dem Kommunikations- und Verkaufsgebahren einer profitsüchtigen Internet- und Online-Subkultur!

Ein gutes Beispiel für den Verlust dieser direkten und 'öffentlichen' Kommunikation - sozusagen das Anti-Beispiel zum Djemaa el Fnaa par excellence - ist der Luxemburg-Pavillon auf der Expo: Amphitheatralisch angeordnet sitzen dort etwa 100 voneinander isolierte Leute vor ihren Bildschirmen und 'hauen fortschrittsgläubig in die Tasten' - kucken weder rechts noch links.

So, das für heute.
Mit vielen Grüssen an Euch:
Peter.