Hallo Najib,

anlässlich der Anschläge auf Charly Hebdo bin ich unzählige Male von Zudringlichen gefragt worden: "und? Spürst Du nicht etwas, wenn Du jetzt in Frankreich bist? Hat das keine Folgen für Dich in den Strassen von Paris?!" - Eine lüsterne, lauernde Frage und mit der Hoffnung ausgesprochen, es möge einen das Schicksal nun endlich dafür bestrafen, was kein normaler Mensch mehr auszusprechen wagt, aber trotzdem denkt und nur in diesem Forum hier auch schreibt:

Endlich kann man das, was man selbst schon die ganze Zeit dumpf fühlt projizieren auf ein anderes Volk, von dem man annimmt, es müsste nun mir das Leben doch endlich so schwer machen, wie man selbst immer gehofft hat, dass es wäre. Dass man geschnitten wird, schräg angesehen, angepöbelt gar, ausgegrenzt und unter Beschimpfungen geduckt durch die Strassen hasten muss, weil ein paar arme Irre einen Anschlag auf ein Karikaturenhefterl gemacht haben, die zufällig denselben Glauben haben wie der Mensch, den man geheiratet hat.

Nein, habe ich geantwortet, ich spüre überhaupt keine Ressentiments, keinen Haß, keine Vorbehalte wegen der Anschläge auf Charly Hebdo, sondern einem harten, ungeschminkten Deutschenhaß bevor man überhaupt den Mund aufgemacht hat bekommt man ihn hingerotzt. Und wenn ich es recht bedenke, dann war ich neuerdings immer sehr erleichtert, dass ich meine Visitenkarte für vorbildliches antirassistisches Denken, Fühlen und Leben ja immer mit mir führe, einem Mann der so nordafrikanisch aussieht, dass nie auch nur der Hauch eines Verdachtes aufkommt, ich könnte Vorurteile irgendwelcher Art haben: weder vom Alter, noch vom Bauchumfang, noch von der Statur, noch der Hautfarbe, noch der Abstammung - und damit ein ganz kleines bisschen mein Deutschsein entschärfen kann.

Bei dieser Auskunft klappen regelmässig die Kiefer einmal runter und dann wieder rauf und dann ist endlich mal Schluss mit dem Erklärenmüssen, dann wird Fersengeld gegeben so schnell man kann das Weite gesucht: bloß jetzt keine Diskussion über den Weltkrieg, die Toten und die Schuld.

Und dann gehe ich um die Ecke auf das grosse Rathaus im Zentrum von Paris zu und stehe dann vor 8 x 5 Metern hohen Plakaten, Vierfarbdruck und Untertiteln in französisch, in englisch und in deutsch und es schauen einen die hohlen Augen der Auschwitz-Rückkehrer zum Jahrestag der Befreiung an, gut drei Kilometer lichte Plakatlänge vor einem Publikum von täglich Hundertausenden aus aller Welt. Und wenn man sich mit Grausen abwenden möchte, in Wirklichkeit aber kleben bleibt und nur trippelnd weitergeht, um ja nichts zu verpassen, hat die Plakatwand zum Shoa-Zentrum geführt, wo dichte Reihen von Maschinengewehren schussbereit im Anschlag starren und man ist mitten in einer Ausstellung von Kriegsberichterstattern der roten Armee - den nächsten Helden, die mir an diesem Tag begegnet sind - und sie zeigen alles:

Rot, in Farbe, gellende Schreie von Müttern, lange Reihen von Kindern und Babies und daneben grinsend marschierende Wehrmachtsoldaten im O-Ton, wo es doch angeblich gar keine Beweise gibt, die rote Armee sie aber massenweise und unte Lebensgefahr hergestellt hat, jeder kann es sehen und vor allem HÖREN: super, denke ich, ich kotze gleich und wie komme ich hier nur wieder raus. Ich bleibe fünf Stunden bis der letzte Zug nach München abgefahren ist und torkele schliesslich wie von Vorschlaghämmern bearbeitet durch die laue Pariser Nacht.

Und nein, das sieht man nicht in Deutschland, das kennt man nicht, das geht gar nicht zu zeigen, schon gar nicht in Farbe und nicht inmitten der schönsten Städte, die wir haben: aber in Frankreich, da ist es gegenwärtig, so dicht und so wenig Möglichkeiten zum Ausweichen wie die nachstehenden Titel, die ich vor einer Woche an nur einer Wand eines Pariser Kioskschaufenstern aushängen gesehen und gekauft habe. Und wer glaubt, da wäre irgendwas vergessen: das ist NICHTS vergessen, alles ist gegenwärtig.

Le Monde Titel: 1945 UN MONDE ÉLCATÉ SORT DE LA GUERRE
Das Titelbild ist ein Riesenhakenkreuz das von vier Fäusten zerbrochen wird, die die Flaggen von Amerika, England, Russland und Frankreich auf den Uniformaufschlägen an den Ärmeln tragen.

Das hängt hundertfach im Schaufenster und ist auch grafisch ein Meisterwerk der Agitation, man möchte kein Deutscher sein, wenn man dem gegenüber steht und ich stehe lange dort. Der Titel daneben:

L'EXPRESS: La Résistance
Das Titelbild zeigt einen Menschen mit einem wunderbaren Gesicht, einem edlen Gesicht, einem Helden - Jean Moulin, der aus einer "famille de notables républicains du Midi" stammt (was für eine schöne Herkunftsbezeichnung: "famille de notables du Midi"!). Im Inneren wimmelt es von Bildern und Berichten, die nur vom bloßen Drüberlesen Entsetzen und Grauen verbreiten . Ein Plakat, kaum zu übertreffen in seiner Eindeutigkeit gleich auf den ersten Seiten:

French Resistance helps throttle the boche

Louvat, R. French Resistance helps throttle the Boche.. UNT Digital Library. http://digital.library.unt.edu/ark:/67531/metadc471/. Accessed May 31, 2015.

Auch dieser Titel befindet sich zigfach hintereinandergefächert im Schaufenster. Der dritte Titel:

Courrier international: 1945 ANNEE ZÉRO
Das Titelbild zeigt eine junge Frau in einem schweren russischen Armeemantel, die offensichtlich direkt aus dem Wald kommt, im Hintergrund sind Bäume und Schnee zu sehen, eine Partisanin, eine Jüdin, die in den Wäldern gelebt hat und an ihrer Hand ein Mädchen, beide mit den entschlossensten Gesichtern, die man sich vorstellen kann, beide haben nicht nur Ermordete gesehen, sie haben selbst getötet, die junge Frau ist eine Schönheit, sie wollte nicht am Rande eines Graben stehen und einen Genickschuss abwarten. Sie blickt direkt in die Kamera und geht entschlossen auf den Fotografen zu.

Die vierte Ausgabe ist ein deutscher Titel:

ZEIT Geschichte: 1945, Auschwitz, Berlin, Hiroshima, Die Welt zwischen Krieg und Frieden
Drinnen alles, was Rang und Namen hat und ein grinsender abgemagerter Göring. "Welt zwischen Krieg und Frieden": welcher Idiot hat sich diesen Untertitel geleistet? "Welt zwischen Krieg und Frieden?" er hätte heissen müssen: "Welt in Schutt und Asche gelegt".

Da weiß man wo man ist.

Thomas Mann sprach diesen Zusammenhang sehr deutlich aus und sagte im November 1941 in einer seiner berühmten, über die BBC
an die Deutschen gerichteten Reden:

„Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins riesenhafte gewachsenen Hass, der eines Tages, wenn eure Volks-und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muss.

Eure Führer, die euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen euch: Nun habt ihr sie begangen, nun seid ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müsst ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über euch.“

Tatsächlich hielten die allermeisten Deutschen still und kämpften bis zum bitteren Ende. Sie hatten die frevelhaften Angebote ihrer Volksführer angenommen: Sie hatten Vorteile aus der Enteignung der Juden gezogen, sie hatten die Deportationen gesehen, manches gehört und flüchteten dann in den ihnen angebotenen Ausweg: Ihr dürft das alles nicht wissen, vergesst
es schnell! Folglich konnten sie hinterher weder sich noch anderen erklären,
was sie getan, mitgemacht, gefördert und zugelassen hatten, und sie behaupteten dann aus tiefer Überzeugung, wie zum Beispiel meine Eltern:

Das haben wir nicht gewusst*.

Aus: Götz Aly, Volk ohne Mitte - wunderbar auf den Punkt gebrachtes Buch, das sich nicht scheut Namen, Anschriften, Beträge und Vermögen zu nennen: da zittert Deutschland, wenn Aly ein neues Buch herausbringt und zwar die Notabelsten der Notabeln.

Kein Marokkaner soll sich auch nur einen Deut wegbewegen von seiner Herkunft, seiner "famille de notables" aus Agadir, aus Fez, aus Marrakesch oder den Bergen des Rif und sich nicht beirren lassen von frechen Boches, twickezoras, die so verwirrt sind, dass sie nicht mehr auseinanderhalten können, ob sie nun angezogen sind von diesen grossen, mächtigen, reichen Deutschen und sich an sie ranschmeissen sollen oder abgestossen, Boches mit Namen Friedrich marokkanisches Mineral, die meinen, sie könnten vor ihrer eigenen Vergangenheit davonrennen indem sie andere Völker erziehen: zu was, frage ich.

Zu was?